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Spiderman und Apfelstrudel

Der Morgen bricht an. Noch liegt die Küche im Dunkeln. Nur langsam streckt sich ein Sonnenstrahl durchs Küchenfenster. Die ersten Vögel zwitschern. Das Vieh draußen meckert. Das Morgenlicht dringt immer weiter in die Küche. Dösend sehe ich zu, wie sich der Raum ins Gelbe verfärbt. Mein Vater ist nirgends zu hören. Vom Holzofen her riecht es nach frisch gebrühtem Kaffee. In der Küche duftet es fruchtig süß.

Großvaters Ziegen

Der liebste Superheld meines Sohnes nennt sich Spiderman. Spiderman hat Batman von Platz 1 verdrängt. Und mein Held? Der heißt Kaffee. Ohne ihn würde ich aus der warmen, dunklen Welt des sanften Schlafs direkt gegen den hellen lauten Tag knallen. Ohne Kaffeeman verursachen mir laute Worte in der Früh innere Verletzungen. Denn mein Sechsjähriger wird aufwachen, aus dem Lager auf meinen Schoß hüpfen und mir hellwach aus seiner Welt erzählen. Mit Kaffee in mir werde ich ihm zuhören können. Ohne hängenden Kopf. Ohne bleierne Beine. Kaffee verführt selbst mich zum Sprung in den Tag. Wenn dazu Milchschaumspiralen winken und zwinkern, umso besser. Doch heute habe ich ohnehin gute Laune. Auch wenn selbst ich nicht verstehe, weshalb. Wo doch der Küchenboden, auf dem wir schliefen, hart ist. Wo uns doch die Nacht von großen Glühwürmchen verlängert wurde.


Ich schleiche zur Kaffeekanne. Dort sehe ich, was mich aus dem Schlaf geholt hat. Sehr früh im Morgengrauen muss mein Vater aufgestanden sein. Denn er hatte in der Stube Strudel gebacken. Während wir dort geschlafen hatten. Mehl, Backblech und Zimt muss er wohl auf jene Art aus den Regalen geholt haben, wie man bunte Mikadostäbchen aus einem Mikadostäbchenhaufen ziehen würde. Mit gemächlich leisen Händen hat er den Teig geknetet, Äpfel geschnitten, Butter zerlassen. Sowie Zimt und Zucker auf die Früchte gestreut. Auch jetzt ist es mucksmäuschenstill. Es ist nicht Küchenlärm gewesen, der mich geweckt hat. Süßer Duft von Zimt und Frucht war es.


Nach dem Backen wurden wohl die Ziegen von meinem Vater versorgt, die jetzt zufrieden aus dem Stall meckern. Die Sonne bestrahlt mittlerweile hell den dunklen Küchentisch. Ich setze mich zu einer der beiden Tassen, die neben dem Backblech mit Apfelstrudel stehen, und hole den Kaffee. Auch Kakao steht in einem kleinen Topf auf dem Holzofen bereit. Ich bediene mich. Natürlich macht das glücklich. Mein Sechsjähriger schält sich aus den Decken. Er erzählt mir von einem Traum. Spiderman kletterte den Ziegenstall hoch und dann kam sein Schulfreund, um den roten Spinnenheld zu retten, der nämlich Angst vor den Ziegen hatte. Er ist aufgeregt, weil er nicht gedacht hätte, dass Spiderman vor Ziegen Angst hat. Ich kaue an meinem Strudelstück und nicke. Während ich ihm Kakao in die Tasse gieße, nimmt er sich vom Strudel. Nachdem er mir ausgeführt hat, wie er und sein Kollege Spiderman aus dem Ziegenstall befreiten, erzähle ich ihm, dass sein Opa auch ein Held ist. Ein Apfelstrudel-Held. Einmal die Woche backt er zwei Bleche Apfelstrudel. Er selbst isst davon bloß ein Stück. Er backt sie nicht für sich. Er backt sie, um sie zu verteilen. An Bekannte und Freunde, die vorbeikommen.  Aber auch an Nachbarn. An das Seniorenheim. An den Gesangsverein. Und wenn er meint, Menschen aus weit entfernten Nachbardörfern bräuchten einen Strudel, dann fährt er eben mit seinem Moped auch dorthin. Einmal brachte er unaufgefordert Apfelstrudel zu einem weit weg liegenden Kindergarten. Kinder wie Kindergärtner dort haben sich erstens gewundert und zweitens sehr gefreut. Großvater liefert die süßen, prachtvollen Teigrollen, ohne dass jemand darum bittet. Oder gar danach verlangt. So funktioniert das bei ihm nicht.

Woche für Woche wählt er neue Beschenkte. Mein Sohn lauscht mir neugierig und als er nach den Beweggründen seines Großvaters fragt, steht dieser plötzlich hinter uns. Leicht mürrisch erklärt er seinem Enkel, dass jedem Charakter ein Stück Apfelstrudel guttue und es dabei unwichtig sei, in welcher Lebenslage der Mensch sich befinde. Ob er sich in einer schwierigen Situation befindet oder nicht, spielt bei seiner Auswahl keine Rolle. Er denkt sich einfach eine Richtung aus und fährt in diese los. So wie heute auch, erklärt er. Wir packen für unsere kleine Wanderung und mein Vater fährt mit den auf sein Moped gebundenen Strudeln seine heutige Strecke. Heute dauere es mehrere Stunden, er komme zum Ziegenfüttern wieder, meint er zu uns. Ich flüstere meinem Sohn grinsend zu, vielleicht will sein Großvater auf diese Weise sein Revier markieren. Als mein Sohn feixt, ergänze ich: „Manche meinen, dass für deinen Großvater das Strudelmachen ein meditativer Akt ist. Den Teig kann er mit seinen großen Händen kneten und formen, so lange er will. Nebenher kann er in aller Ruhe über Dieses und Jenes sinnieren. Sein Kopf wird frei. Die Strudel zu verteilen, kann als reinigende Handlung im Namen der Liebe betrachtet werden. Deine Großmutter behauptete zu Lebzeiten, dass die Beschenkten durch seinen Apfelstrudel innerlich mit Liebe gewaschen werden." Und vielleicht ist das ja Etwas, was Arbeit stets  wahrmacht. Wer weiß?



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