Der Großvater meines Sechsjährigen wohnt in einem alten Haus in den Bergen. Das Waldhäuschen wurde vor langer Zeit aus Holz und Stein gebaut. Felsen und kahles Kalksteingebirge prägen den Ausblick. Ansonsten wachsen dort dunkler Nadelwald, einige Laubbäume und Gestrüpp. Soweit das Auge reicht, fahren keine Autos auf keinen asphaltierten Straßen. Bloß ein steiler, erdiger Forstweg führt zu Opa.
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Doch der Garten |
Doch der Garten! Mit dem Garten rund ums Haus verhält es sich völlig anders. Der Garten ist kunterbunt und prächtig. Sein Farbenreichtum sticht ins Auge. Kräuter, Gemüse und Beeren wachsen üppig. Die Blaubeeren schimmern. Die Erdbeeren blitzen. Tomaten strahlen orange und rot. Zucchini tragen große gelbe Blüten und der Thymian duftet mit dem tiefgrünen Basilikum um die Wette. Blühende Rosen ranken entlang des rostigen Zauns und strahlen in Rot. Neben dem Garten wachsen drei hohe Pappeln. Sonnenstrahlen spielen mit den Blättern dieser edlen Bäume. Wie Meereswellen schimmert das Licht in ihnen. Die drei Bäume spenden im Sommer Schatten. Doch nicht nur das. Sie geben auch Stabilität und erhabene Lebenskraft. Unter ihnen stehen ein alter Holztisch und zwei Bänke.
Die Sommerhitze brennt auf das Dach des alten Hauses. „Auf den heißen Dachsteinen schmelzen die Geister.“, erzählt Opa seinem sechsjährigen Enkel. „Welche Geister denn?“, will der Schulanfänger wissen. Opa sagt, dass es sehr alte Geister von längst vergessenen Ahnen seien. Die Ahnengeister sind nichts als alte Ängste und Sorgen. Doch hier auf seinem Dach vergehen sie in der Hitze. Und der Weg für frischen Wind wird frei. Frei für den Duft und Geschmack der herrlichen Früchte, die hier im Garten wachsen. Die ängstlichen Ahnengeister weichen und machen den verspielten Naturgeistern Platz. So sein alter Großvater. Mein Sohn legt sich unter die drei Pappelbäume und lauscht den Erzählungen. Er streckt sich und dehnt seine Glieder. Ich lege mich zu ihm und wir träumen ein Weilchen in den flirrenden Gefilden. Grashalme kitzeln. Sanftes Blätterrauschen betört.
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Naturgeister |
Opa kommt mit einem Kessel aus dem Häuschen. Der Eintopf aus Kräutern, Gemüse und Ziegenkäse dampft. Er stellt den Kessel auf den morschen Holztisch unter den Bäumen und gibt uns jeweils einen Löffel. Dann geht er zurück ins Haus und holt Brot zum Tunken. Als Zeichen, dass die Mahlzeit begonnen werden kann, nickt er uns zu. Er lädt eine ordentliche Portion auf seinen Löffel und nimmt ihn in den Mund. Dann spuckt er die volle Ladung in einem großen Bogen ins Gras. Der Eintopf fliegt dicht an unseren Köpfen vorbei. So nah, dass ein Stück gekochte Tomate meinen Kopf trifft. Die Tomatenhaut bleibt in meinem Haar hängen. Entgeistert starre ich meinen Vater an, dann werfe ich einen Blick auf meinen Sohn, der kichert. Empört schnaufend und mit wütend rotem Kopf versuche ich das Gemüse aus meinen Haaren zu fischen. Mein Vater grinst. Es dürfte mittlerweile klar sein, was für eine Art Opa mein Sohn hat. Er erklärt, „Um die Geister fern zu halten.“ „Aha.“, antworte ich und seufze. Meine Eltern werde ich nicht ändern. Also atme ich tief ein und aus und beginne den Eintopf zu löffeln. Herrlich aromatisch schmeckt das Essen.
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Glühwürmchen in Großvaters Garten |
Opa murmelt. Mein Sohn sieht seinen Großvater fragend an. Dann mich. Also frage ich meinen Vater, „Was sagtest du?“ „Die Naturgeister tanzen hier nachts um die Bäume.“ Er erklärt, „Naturgeister sind Geister, die hier in den Wiesen und Bäumen leben. Sie sind keine Geister der Vergangenheit. Sie leben nur jetzt. Keine Quälgeister aus unversöhnten Familiengeschichten stammen. Aus alten Mechaniken ängstlicher Seelen.“ Ich weiß schon, welche Geschichte jetzt kommt. Die Geschichte der leuchtenden Tanzgeister. Auch mir als Kind hat er sie schon erzählt. „Alles, was uns mit diesen Naturgeistern passieren kann, ist, dass sie unseren Schlaf stören. Sie machen nachts Geräusche, weil sie beim Tanzen die Äste der Pappeln streifen. Das mag ein wenig seltsam rauschen. Doch ansonsten sind sie harmlos.“, erzählt er. Schmunzelnd erkläre ich meinem Sohn, „Sie machen einfach ihr Ding. Und ihr Ding ist es, zu tanzen. Das tut ihnen gut. Und zu wissen, was guttut, ist wichtig!“, betone ich und erkläre ihm weiter „Tanzen ist für sie sehr wichtig. Denn wenn sie das nicht machen, geraten sie aus der Balance. Das ist bei denen so.“ Ich sehe, dass der Bub mich versteht, denn er lächelt uns vielsagend an. Der Eintopf, den sein Großvater auf die Wiese gespuckt hat, soll die Naturgeister heute Nacht von den Bäumen fernhalten. So sollen wir besser schlafen. Eintopf mögen sie nämlich nicht und sie werden sich davor hüten, ihm zu nahe zu kommen. Aber ein Problem gebe es immer noch, meint mein Großvater zu meinem Erstaunen. Die Anwesenheit von Autos wirke sich auf die Anwesenheit von Geistern negativ aus. Autos locken Geister aller Art. „Dein alter Volvo steht hier also ungünstig“, meint mein Vater zu mir mit vorwurfsvollem Blick. Der Volvo hebe sozusagen die Abwehrkräfte des Eintopfes auf. Jetzt hält sich mein Sohn den Bauch vor Lachen. Diese Information ist auch mir neu. „Das ist ja großartig.“, meine ich über diese Zutat in seiner Geschichte.
Unser Schlafplatz ist auf dem Boden eine dicke Lage warmer Decken in der großen Küche. Der Bub schlummert schon bald. Ich höre seinen regelmäßigen Atem. Wie schön Kinder sind, wenn sie schlafen, denke ich gerade, als ich von meinem Deckenlager draußen ein Rascheln höre. Es säuselt, als ob Äste vom Wind gestreift werden. Ich erhebe mich vom Lager und mein Sohn erwacht. Still nehme ich seine Hand und wir ertasten den Weg nach draußen. Leise öffnen wir die knarzende Haustür. Nicht der kleinste Luftzug streicht uns entgegen. Die Nacht ist windstill. Wir sehen nichts. Dunkelheit umgibt uns. Vorsichtig streichen wir die Hauswand entlang und tasten uns zum Garten vor. Wir sehen etwas und erkennen es. Erkennen es, weil wir müde Augen haben. Augen, die tief in ihren Höhlen liegen und deren Muskeln entspannt sind. Offene Augen. Augen, die ohne Ziel sehen. Ohne Vorstellung. Da sind Wesen. Wir erkennen sie unter den Pappeln. Vier schimmernde Gestalten. Schwebend tanzten sie um die schlanken Bäume. Die Körper erinnern an große Glühwürmchen. Etwa so groß wie ein Wasserglas. Vielleicht zehn Zentimeter lang. Stumm flimmern sie und schaukeln um die Äste. Hin und wieder streifen sie die Zweige der Pappeln. Das erzeugt das raschelnde Geräusch. Mein alter Vater hat also recht. Seine Eintopfspucke hilft zwar nicht, diese bezaubernden Wesen von den Bäumen fernzuhalten. Aber es gibt sie. Sie sind gekommen, um zu tanzen. Die Geister der Natur. Mein Sohn drückt meine Hand und flüstert begeistert, „Schau, Mama! Große Glühwürmchen!“ Die Wesen dort unter den Bäumen erzeugen eine Art Lichtspiel. Ein Lichtspiel, wie wir es kennen, wenn die Sonne scheint und wir unter den Bäumen liegend die Blätter von unten beobachten. Wenn wir sehen, wie Sonnenstrahlen durch grünes Blätterwerk flimmern und durch die wehenden Blätter schimmern. Es ist ein vergnügliches Spiel der Sonne mit Blättern, Schatten und Licht. Die tanzenden Körper dieser vermeintlichen Glühwürmchen schimmern. Sie blinken wie ferne Sterne, bloß näher und größer. Und wie Kometen ziehen sie mal einen Lichtschweif hinter sich, mal beschleunigen sie mit kraftvollen Sprüngen und hinterlassen Lichtreflexe dort, wo sie eben noch tanzten. Dass es der Volvo war, der sie angelockt hat, bezweifle ich. Ich lache kurz auf, als ich meinen chaotischen Gedankengang beobachte. Offensichtlich habe ich eine Art Denkausfall. Und der fühlt sich wundervoll an.